Seyfullah Köse ist Lehrer und Grafiker. Er ist ein Ruhrpott-Kind anatolischer Herkunft und Vorstandsmitglied des Landesintegrationsrats NRW.

 

Was ist das Besondere am Zuhören als Lehrender?

Ich entwickle mich als Mensch weiter. Was ich höre, erweitert meinen Horizont. Das brauche ich in Bezug auf mein Demokratieverständnis.

Bis vor zwei Jahren habe ich beispielsweise selten einen Genderstern benutzt oder versucht, meine Sprache soweit zu verbessern und zu entwickeln, dass ich Frauen sprachlich nicht stetig ausgrenze. Da so viele Schülerinnen und auch Lehrerinnen in meinem Umfeld sind, habe ich angefangen, meine Sprache dementsprechend zu verändern und dadurch der Gesellschaft in ihren Ansprüchen und auch meinem Demokratieverständnis gerecht zu werden. Ich leiste einen Beitrag dazu, diese Welt besser zu machen und merke, wie meine Schülerschaft das aufnimmt und auch für sich umsetzt.

In jeder Klasse kann ich dutzende Menschen dazu gewinnen, ein besseres und aufgeschlosseneres Leben mit mehr Teilhabe zu führen. Ich versuche, die Gesellschaft demokratischer und gerechter zu machen. Ich beobachte, wie meine Schüler:innen diese Sprache adaptieren und für sich umsetzen, wie junge Mädchen selbstbewusster und selbstbestimmter auftreten.

Alles ist heute ein ganz normales gesellschaftliches Miteinander. Das ist etwas, das wir nur schaffen, wenn wir zuhören und dabei lernen, dass wir alle die gleichen Bedürfnisse nach Liebe, nach Zuneigung, nach Miteinander und Zugehörigkeit teilen. Und dann merkst du, dass da einfach kein Unterschied ist und alle Menschen ganz natürlich ein Teil deines sozialen Umfelds sind. Die möchtest du bei dir haben, genauso wie du jeden anderen bei dir haben möchtest. Das fördert einen gesellschaftlichen Frieden, zu dem Lehrende einen erheblichen Beitrag leisten können.

Ich merke, dass ich diese Welt zu einem besseren Ort machen kann. Nicht, weil ich mich für einen guten Menschen halte, sondern weil ich selbst enorm davon profitiere, in einer friedlichen Gesellschaft zu leben und mich darin zu bewegen.

 

Wie hast du gelernt, zuzuhören?

Ganz am Anfang war ich überhaupt kein guter Zuhörer. Ich bin in einem Arbeiterviertel großgeworden und musste mich durchsetzen. Da kannst du nicht zu einem deinen Bullies sagen, „Du, ich finde, du bist ein ganz missverstandenes Kind und ich verstehe dich“. Nein, du sagst da ziemlich robust: „Ich bin der, der das Sagen hat!“. Mein Auftreten hat gewährleistet, dass meiner Familie nichts passierte. Ich habe Gespräche eher beendet, wenn sie nicht zu meinen Gunsten liefen.

Ich habe Zuhören später durch meinen Großvater gelernt. Er selbst konnte weder lesen noch schreiben und hat mich einfach zum Denken gebracht. Hier habe ich gemerkt, in wie vielen unterschiedlichen Welten ich mich eigentlich bewege. Ich konnte in ihnen nur navigieren, weil ich sie verstand und deswegen habe ich gelernt, zuzuhören: meinen Eltern zuzuhören, unseren Verwandten, unseren Nachbarn, die mitunter nach heutigem Standard sehr rassistisch waren. So bin ich einer Vielzahl von verschiedenen Persönlichkeiten im Auftreten und der äußeren Erscheinungen gerecht geworden. Das hat mir Spaß gemacht. Mal war ich der fromme Junge in der Moschee, mal war ich der gut integrierte junge Mann, der höflich die Straße fegte und dabei mit den deutschen Nachbarn gesprochen hat, mal war ich der gute Sohn und mal war ich der, der seiner Freundin gut zuhörte. Zuhören hat mir auch Dinge ermöglicht, die wichtig für mich waren, z.B. eine Partnerin zu haben und ihr den Raum zu geben, sie selbst zu sein.

Je mehr ich begriff, dass unsere Welt von Dingen geprägt ist, die nicht so schön sind, desto mehr habe ich verstanden, das Zuhören Momente schaffen kann, die diese Welt zum Besseren verändern. Ich habe zum Beispiel viele Jungs in meinem direkten Umfeld davor bewahrt habe, Sch… zu bauen. Ich habe viele Dinge nur übers Zuhören geschafft, das ist ein Zugang, einen anderen Menschen zu verstehen.

Es ist der elementare Schlüssel, um diese Welt aufzusaugen, sie zu gliedern, sie zu fragmentieren und neu zu ordnen und zu verstehen, wo es hapert und wie Dinge sich ändern sollten, damit sie besser wird.

 

Wann hat Zuhören einen Unterschied gemacht?

Ich mache das an Menschen fest und habe großes Glück, immer Menschen in meinem Umfeld zu wissen, die mir zu denken gegeben haben.

Je mehr ich die Komplexität des Lebens verstehe, desto eher verstehe ich, dass die eigenen Bedürfnisse nicht eindimensional zu erreichen sind. Dazu gehört z.B. soziale Teilhabe und vor allem Teilhabe am Wohlstand dieses Landes, das ist untrennbar miteinander verknüpft.

Werte richtig einordnen konnte ich nur, wenn ich in mich hineingehorcht habe. Als ich anfing, mir selbst zuzuhören, welche Bedürfnisse für mich wichtig sind, habe ich den Zugang zu einer besseren Welt für mich und mein Umfeld gefunden. Und das ist etwas, was mir wiederum mein Großvater beigebracht habe. Etwas, dass mich im Nachhinein sehr beschäftigt.

Als wir zusammen auf dem Feld Aprikosenbäume setzten, sagte er: „Es fängt immer hier an, immer bei dir.“ Und er setzte einen Baum nach den anderen, immer mit einer kleinen Wasserkuhle: „Wir beide schaffen hier Leben. Das wird über Generationen hinweg fortbestehen.“

Ich habe diese drei Sätze von ihm gehört, die ich bis heute als elementare Bestandteile meiner Werte in mir trage, meines Zugangs zu Demokratie, zu meiner Religion und zu den Menschen, die ich liebe.

„Es fängt immer bei dir an“ bedeutet, dass du nur dann helfen und etwas gestalten kannst, wenn du in einem inneren Moment des Friedens mit dir selbst bist. Wenn du in einem stetigen Konflikt mit dir bist, findest du auch nicht den Moment, dein Umfeld mitzuprägen, jedenfalls nicht im positiven Sinne. Es muss immer damit anfangen, dass du Schritt für Schritt vorgehst.

Es hat mir die Möglichkeit gegeben, ein Mensch zu sein, der versteht, dass viele Dinge nicht von heute auf morgen umsetzbar sind, sondern man über Jahre hinweg daran arbeitet, sie besser zu machen. Dabei höre ich meiner Umgebung zu, greife Informationen auf und gewinne die Möglichkeit, passende Werkzeuge zu entwickeln. Deswegen gebe ich auch keine meiner Schüler:innen auf, sondern versuche, sie immer zum Besseren zu verändern. Dass ich das nicht schaffe, ist offenkundig, aber ich glaube, dass ich vielen Kindern und Heranwachsenden helfen kann, ihr Leben in den Griff zu bekommen, egal wie komplex und kompliziert ihr privates Umfeld ist.

 

Was hat sich für dich verändert?

Ich führe ein besseres Leben, dass mir die Möglichkeit gibt, in einer Konfrontation oder aktuell einer Pandemie so viele verschiedene Gedankenwelten entwickeln zu können, dass ich nicht den Mut aufgebe.

In Momenten der Verzweiflung bin ich nicht lethargisch, sondern suche nach Lösungen, weil ich eben verschiedene Erfahrungswerte gewonnen habe. Ich weiß einfach, dass man aus den meisten Situationen auch wieder herauskommt. Und auch wenn es nach pathetischem Filmstoff klingt: Ich bin ein liebender Mensch, der geliebt wird. Das kann niemand beziffern. Es gibt Dinge, die man nicht bewerten kann und die nicht verhandelbar sind.

Ich habe fundamentale Werte, die ich nicht für alles Geld dieser Welt in Frage stellen würde. Zuhören hat mir vermittelt, dass ich Menschen in meinem Leben habe, die ich mehr liebe als mich selbst.

Das gibt mir eine innere Ruhe, die ich stetig für mich nutzen kann.

 

Lieber Seyfu, vielen Dank!