…sobald ich anfange zu reden, unterbrichst du. Ich frage mich, was dich dazu bringt, immer reinzureden?“
Ist dir dieses Phänomen schon einmal begegnet? Wir unterbrechen und wir werden unterbrochen. Ständig. Von Kollegen, Freunden, Nachbarn und in der Familie. Wir beenden Sätze und Fragen anderer und verhindern ihre Verfeinerung und Präzision, ihre Einladung, anders und neu zu denken. Denn wir unterbrechen nicht nur das Sprechen, sondern auch das Denken. Das ist ernüchternd, oder? Wir unterbrechen uns selbst oder andere übernehmen das für uns, häufig unsere digitalen Helferlein, aber auch unsere Annahmen und Identitäten.
Unterbrechungen lauern überall. Lebhafte Abendessen mit Freunden oder formelle Meetings am Arbeitsplatz formen unsere Kommunikationsmuster und haben eine große kulturelle und kontextuelle Komponente. Wenn wir fröhlich gemeinsam kochen, alle durcheinander plaudern und sich ins Wort fallen, ist es sogar ein Zeichen von Zusammengehörigkeit und Co-creation. Im Arbeitskontext hingegen ist es oft unhöflich oder sogar schädlich.
„I am speaking“
Erinnerst du dich an Kamala Harris und ihr souveränes “I’m speaking” während einer politischen Debatte im Vorfeld der US-Wahl 2020? Politiker haben gelernt, dass sie keine Zeit haben, Argumente zu entwickeln oder nuancierte Antworten zu geben, bevor sie unterbrochen werden. Eine Eigenschaft, die ein schlechtes Vorbild für Diskussionen ist. Das Ergebnis sind feingeschliffene Rhetoriker, die versiert ihre Argumente transportieren und keinen Diskurs wünschen.
Eine Talkshow, in der sich Teilnehmende ausreden lassen und zuhören, das wäre ein wahrhaft disruptives Fernsehformat. Vermutlich bediente es nur nicht die gewünschte Quote und die Sehnsucht nach Zuhören im politischen Kontext ist mitunter auch verkitscht[1].
Auch in anderen Kontexten erleben wir ebenso häufig verbales Reingrätschen. Es ist wenig überraschend, dass Ärzte ihre Patienten im Durchschnitt schon nach 12 (!) Sekunden[2] unterbrechen. Weniger als ein Viertel aller Patienten kann in Ruhe aussprechen.
Unterbrechen ist eine Frage von Macht. Es verhindert klares und eigenständiges Denken. Ungeteilte Aufmerksamkeit hingegen bringt “Menschlichkeit in Führung und Führung in Menschlichkeit”[3].
Tatsächlich würde die Entscheidung, sich nicht ständig gegenseitig zu unterbrechen, die Qualität unserer Gespräche maßgeblich verbessern und gesellschaftliche Spaltung abbauen. Bei der Arbeit, in der Politik, unter Nachbarn, zuhause oder in uns selbst.
Wer unterbricht wen?
Forschung zeigt, dass Männer Frauen häufiger unterbrechen als andersherum.
Schon 1975 fanden Zimmerman und West heraus, dass bei gemischtgeschlechtlichen Gesprächen Männer für fast alle Unterbrechungen verantwortlich waren. Männer unterbrechen ein Gespräch mit einer Frau mit 33% höherer Wahrscheinlichkeit als das mit einem anderen Mann. Männliche Richter des Obersten Gerichtshofs in den USA unterbrechen weibliche Richter etwa dreimal so oft wie andere männliche Richter[4].
Diese Studien suggerieren, dass Unterbrechungen nicht nur unhöflich sind, sondern auch tiefer liegende gesellschaftliche Dynamiken und unbewusste Voreingenommenheit widerspiegeln. Wen halten wir für mächtig oder hochrangig?
Belastend oder bereichernd?
Mit verschiedenen Arten und Strategien des Unterbrechens haben sich Cafaro et al. genauer beschäftigt und zwischen störend (disruptiv) und kooperativ unterschieden, basierend auf dem Inhalt der Unterbrechung.
Ihre Studie beleuchtet, wie unterschiedliche Arten von Unterbrechungen – von simultanem Sprechen bis hin zu vollständigen oder unvollständigen Äußerungen – die Wahrnehmung von Engagement und Beteiligung in der Interaktion beeinflussen können.
Kooperative Strategien führten zu einer höheren wahrgenommenen Freundlichkeit und einem geringer wahrgenommenen Dominanzniveau des Unterbrechers und wurden somit als Zeichen höheren Engagements und größerer Beteiligung bewertet[5].
Mein Beitrag ist wichtiger als deiner
Nancy Kline, deren Methode „Thinking Environments“ zielführende und effektive Kommunikation ermöglicht, hat eine Gruppe gefragt, was ihrer Meinung nach der Grund war, dass sie ihren Kollegen ins Wort fielen[6] (bitte anschnallen):
- Wenn ich jetzt nicht unterbreche, dann werde ich keine Gelegenheit haben, meine Idee zu äußern
- Meine Idee ist besser als deine
- Ich weiß, was du sagen willst
- Du brauchst deinen Gedankengang nicht zu Ende zu führen, denn meiner ist eine Verbesserung
- Nichts an deiner Idee wird sich in der weiteren Entwicklung verbessern
- Ich bin wichtiger als du
- Es ist für mich wichtiger, mich mit einer Idee zu profilieren als sicherzustellen, dass du deinen Gedanken zu Ende führst
- Unterbrechen spart Zeit
All das verhindert gutes Denken!
Wir denken schneller als wir sprechen
Wir sprechen ungefähr 120 Wörtern pro Minute, denken aber mit etwa 900 Wörtern im gleichen Zeitraum. Für alle dreißig Wörter, die wir sagen, sagen wir also knapp 250 nicht. Selbst mit meinem besten Zuhören entgehen mir fast 90% deines Denkens. Sicherlich profitieren wir beide davon, wenn ich dich ausreden lasse. Dann wird meine Antwort auch genauer und vollständiger sein.
Wenn also jemand seine Gedanken mit dir teilt, solltest du deshalb dem Drang widerstehen, dich einzumischen, sobald derjenige Luft holt. Halte lieber etwas länger inne und erlaube ihm, weiter zu denken, während er mehr von dem mitteilt, was er wirklich sagen will.
Unterbrechen, aber wie?
Unterbrechen hat also mindesten zwei unschöne Konsequenzen. Erstens bekommen wir nicht zu hören, was die andere Person Nützliches oder Aufschlussreiches sagen würde. Zweitens schadet es höchstwahrscheinlich dem Rest des Gesprächs, indem es die Dynamik und den emotionalen Kontext verändert. Die unterbrochene Person wird sich bewusst oder unbewusst herabgesetzt und beleidigt fühlen.
Allerdings ist nicht jede Unterbrechung am Arbeitsplatz unhöflich. Es kann sogar ermutigend und produktiv sein, wenn es z.B. grundlegende Missverständnisse gibt oder langatmig und sich wiederholende Wortbeiträge, die nicht zu einem ausgewogenen Sprechanteil in der Gruppe führen.
Gute Kommunikation am Arbeitsplatz beinhaltet gegenseitiges Zuhören und die Bereitschaft, Unterbrechungen in einer Weise zu nutzen, die einen Diskurs fördert und nicht untergräbt. Übrigens reden wir gar nicht so lange wie du denkst, nur ist unsere Aufmerksamkeitsspanne, sprich Geduld deutlich zurückgegangen auf durchschnittlich 11 Sekunden!
Fühlst du dich ertappt, dass du häufig unterbrichst? Hier drei praktische Tipps:
- Kläre vor einem Gespräch, wie mit Fragen umgegangen werden soll. Sollen sie direkt oder am Ende gestellt werden?
- Reflektiere deine Absicht: Überlege dir, ob es bei deiner Unterbrechung um dich und deine Sichtweisen geht oder darum, das Gespräch voranzubringen. Die zweite Option erhöht die Effektivität des Dialogs, insbesondere bei Meetings.
- Respektvolles Timing: Lass den Redner und seinen Gedanken zu Ende führen. Warte eine natürliche Pause ab. Beobachte das Sprachmuster des Sprechers. Beachte Punkt 2.
Mit Respekt und Verständnis kannst du dann wesentlich dazu beitragen, den Dialog am Arbeitsplatz zu verbessern. Etabliere eine wertschätzende Zuhörkultur, dann werden Unterbrechungen seltener.
Und wenn der Redner nicht auf den Punkt kommt?
Einige Redner haben ein unausgewogenes Verhältnis zum Thema Zeit, d.h. es ist ihnen schlichtweg nicht bewusst, dass sie so viel Zeit kapern.
Hier hilft es, Fokus reinzubringen: „Danke, dass du das Thema so umfangreich beleuchtet hast. Wenn das eine E-Mail gewesen wäre, wie würde deine Betreffzeile lauten?“ Dann kann es häufig weitergehen.
In Workshops kann auch ELMO zum Einsatz kommen. Elmo ist nicht nur ein freundlicher kleiner Geselle aus der Sesamstraße, sondern auch ein Akronym für „Enough, Let’s Move On“. Eine ELMO Figur oder Karte, die diskret von einem beliebigen Teilnehmer in die Hand genommen wird, hat schon einige Runden beschleunigt.
Was tun, wenn ich unterbrochen werde oder es bei anderen bemerke?
Thematisieren
- „Du wolltest mich sicher nicht unterbrechen, nicht wahr?“
- „Ich bin mit meinem Gedanken noch nicht fertig“
- Auf keinen Fall solltest du dich entschuldigen: „Entschuldige, ich würde gern…“
- Werde konkret, benenne die Person, die dich unterbrochen hat: „Thomas, ich bin mit meinem Teil noch nicht fertig. Du kommst als Nächster dran.“
- Manchmal hilft es, die Stimme leicht anzuheben, manchmal ist genau das Gegenteil der Fall.
Teamarbeit
Ihr könnt auch im Team arbeiten und Kollegen unterstützen, wenn es euch auffällt. Dann dürft ihr die Unterbrecher gern selbst unterbrechen:
- „Können wir Petra ausreden lassen?“
- „Ich glaube, Uwe war noch nicht fertig und ich würde gerne hören, was er zu sagen hat.“
- und als Ausbaustufe „Jenny, es klingt, als hättest du noch mehr dazu zu sagen und ich würde gerne hören, was du sagen wolltest, bevor du unterbrochen wurdest.“
Als Moderator
Die Königsdisziplin, bei der Fingerspitzengefühl gefragt ist, denn letztendlich bist du genau dafür für die Gruppe da, als bezahlter Unterbrecher. Wenn du moderierst oder ein Meeting leitest, bist du mit deinem Verhalten Vorbild für die Teilnehmenden und den Prozess. Leider werden auch die besten Vorbilder ignoriert und es ist deine Aufgabe, mit Unterbrechungen oder „Themen-Hijacking“ umzugehen.
- „Wir kommen gleich zu deinem Punkt, lassen wir Philipp erst ausreden.“ Hier bitte nicht beleidigend werden.
- „Vielleicht bringe ich uns kurz wieder zusammen…“, denn es ist deine Aufgabe, die Diskussionen anzustoßen und sie auch voranzutreiben.
Diese Verantwortung, ein Gleichgewicht zwischen dem Zulassen von Beiträgen und dem notwendigen Steuern der Diskussion zu finden, erfordert ein hohes Maß an Geschick und Sensibilität. Moderatoren stehen vor der Herausforderung, eine Atmosphäre psychologischer Sicherheit zu schaffen, während sie gleichzeitig sicherstellen, dass die Diskussion produktiv bleibt und alle Teilnehmenden zu Wort kommen.
Schlußgedanken
Auch ich unterbreche Leute. Und ich entschuldige mich, wenn ich es tue (wenn ich es bemerke). Mir passiert es wie allen anderen, nur nicht mehr so häufig wie früher.
Unterbrechungen im Arbeitskontext können sowohl ein Hindernis für effektive Kommunikation als auch ein Werkzeug für dynamische und produktive Diskussionen sein. Wenn es zur Gewohnheit wird, verringert es die Kraft und Qualität unserer Kommunikation.
Der Schlüssel liegt darin, sich der zugrundeliegenden Dynamiken bewusst zu sein und Unterbrechungen auf eine Weise zu nutzen, die den Respekt für den Sprecher bewahrt und somit Dialog und gemeinsames Denken fördert. Letztlich ist die Kunst des Unterbrechens ein wesentlicher Bestandteil unserer Kommunikationskompetenz, die in einer immer vielfältiger werdenden und vernetzten Welt zunehmend eine Notwendigkeit wird.
Eine wertschätzende Zuhörkultur, den anderen ausreden zu lassen und gleichzeitig Unterbrechungen produktiv zu nutzen kann Missverständnisse reduzieren und auch eine inklusivere und respektvollere Arbeitsumgebung schaffen. Ändere, wo deine Aufmerksamkeit ist, und du änderst, wo die Gedanken einer anderen Person sind.
Fange klein an und versuche, heute niemanden zu unterbrechen.
Copyright Bilder: Alexandra Perl
[1] Goltermann und Sarasin: https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/170354/1/goltermann_sarasin_plattform_geschichte_gegenwart_zuhoeren.pdf
[2] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11456245/
[3] Nancy Kline, 2020
[4] Zimmerman, West, 1975: Sex Roles, Interruptions and Silences in Conversation
[5] Cafaro et al, 2016: The Effects of Interrupting Behavior on Interpersonal Attitude and Engagement in Dyadic Interactions
[6] Nancy Kline, Time to Think, 2016