Andrea Rawanschad ist gelernte Juristin und Mediatorin. Seit 2015 ist sie Visualisierungstrainerin bei bikablo mit dem Schwerpunkt Visual Facilitation (Visuelle Dialogbegleitung), wo wir uns auch kennen gelernt haben. Als Visual Facilitator unterstützt sie mir ihren Bildern Findungsprozesse in Coachings, Meetings oder Workshops in ständigem Abgleich mit den Sprechenden oder der Gruppe.
Was ist das Besondere am Zuhören bei der visuellen Dialogbegleitung?
Spontan würde ich sagen, dass ich mit dem ganzen Körper zuhöre, nicht nur mit dem Ohr, sondern mit allen Sinnen. Und ich achte besonders darauf, wie ich gerade zuhöre, denn mir geht es darum, wirklich offen hinzuhören, um zu verstehen – was für mich ein Unterschied ist zum Zuhören, um etwas zu erwidern.
In meiner Rolle als Visual Facilitator höre ich zudem mit dem Stift zu. Im Gespräch habe ich immer auch eine Spur mitlaufen, die auf der Suche nach der Essenz ist, die ich demjenigen, der spricht, visuell anbieten kann.
Ich bin mit meiner ganzen Aufmerksamkeit wirklich beim Gegenüber und mache mich so leer wie möglich, um mit allen Sinnen präsent zu sein, sowohl sprachlich als auch mit dem Stift. Ich versuche, verständlich zu machen, was ich eingefangen habe, was der Gesprächspartner gerade denkt oder zum Ausdruck bringen möchte. Mein Lieblingswort dafür ist Verständnisquittung. Ich stelle mich quasi ganz in den Dienst des Gegenübers. Selbst wenn der Sprecher sagt, das ist es noch nicht so ganz, dann ist das eigentlich ein großes Geschenk, weil er für sich dann klarer wird und im Idealfall, sich selbst nochmals zuhört und reflektiert. Das ist eine schöne Aufgabe.
Gibt es bestimmte Techniken für deine Arbeit?
Wenn es um das visuelle Zuhören geht, dann arbeite ich fast immer mit einem weißen Blatt. So ein weißes Blatt, egal, ob auf Flipchart oder Pinnwand, braucht ein bisschen Struktur. Wenn ich am Anfang weiß, es geht um ein bestimmtes Thema, dann schreibe ich das zum Beispiel in die Mitte. Beim Zuhören kann ich dann ganz beim Sprecher sein und schreibe die Themen in kleinen Päckchen um die Mitte herum. Ansonsten habe ich immer noch weitere drei bis vier Templates im Kopf. Das ist für mich der technische Teil.
Nicht selten kommt gerade am Anfang ganz viel Information auf einmal und häufig stecken in einem Redeschwall des Sprechers schon viele Dinge drin, die auch erstmal auseinander gepackt werden dürfen. Da helfen Stift und visuelles Paraphrasieren auf jeden Fall: „Das hier habe ich gehört, das hier und vielleicht ist da sogar noch ein weiterer Punkt?“. Für mich ist das wie ein Auffächern.
Dann bin ich ganz bei den Inhalten, die schreibe ich zuerst. Erst darauf überlege ich mir die passenden Bilder. Manchmal ist der Sprecher schon selbst in einer Bildsprache, dann bleibe ich natürlich in diesem Bild, z.B. sonnige Aussichten. Ich habe mal gehört, dass sich im Bild Bewusstes und Unbewusstes treffen, das ist also deren gemeinsame Sprache. Deshalb sind Bilder auch so kraftvoll. Wenn mir partout kein Bild einfallen will, dann bleibe ich entspannt, das Bild wird uns schon finden, das plane ich nicht krampfhaft oder frage halt, was dem Sprecher spontan dazu einfällt. Ich weiß aber auch von Kollegen von mir, denen zuerst das Bild einfällt, auch ein tolles Talent.
Gerade weil Bilder so kraftvoll sind, nutze ich den Stift in der visuellen Dialogbegleitung vor allem für die Bilder des Sprechers. Im Grunde gibt es dabei zwei Möglichkeiten: entweder führt der Stift oder er folgt. Ich kann z.B. sagen, „oh das hört sich für mich so an, als wäre das anstrengend“ und male eine Emotionsfigur, die angestrengt ist. Dann ist das ja ein Führen durch den Stift. Frage ich hingegen „wie fühlt sich das für dich an?“ und der Sprecher sagt, das wäre eigentlich was ganz Sportliches, dann zeichne ich eben das. Dann folgt der Stift.
Ich bin lieber ein folgender Stift als ein führender. Beides hat seine Berechtigung. Offenheit und Verstehen gehen für mich besser mit einem folgenden Stift.
Sich leer machen, wie geht das?
Das hat damit zu tun, dass ich Menschen so sehr mag und an der Stelle einfach offen und neugierig bin. Ich habe keinen Knopf, wo ich das mache, keine Technik. Vielleicht ist das Reproduzierbare, sich stets selbst zu fragen, bin ich noch mit voller Aufmerksamkeit beim Gegenüber? Sich zu beobachten und zu fragen, für wen ist das jetzt wichtig, für den Redner oder für mich?
Wenn ich etwas besonders gut machen möchte, dann merke ich, bin ich oft zu sehr bei mir und denke z.B. „Mist, ich habe das nicht verstanden“ oder „Jetzt will ich aber, dass es für sie oder ihn auch auf den Punkt hier aufs Papier kommt“. Und dann denke ich mir, für wen machst du das gerade, Andrea? Dieser Anspruch, für wen muss das jetzt gut werden, ist irreführend. Erstens kann ich das doch gar nicht bestimmen und zweitens merke ich, wenn so ein Druck aufkommt, dann bin ich zu sehr bei mir. Und dann schaffe ich es im Idealfall, einmal durchzuatmen und zu fragen „was noch?“ und wieder in die Offenheit zu gehen.
Gleichzeitig sind wir ja räsonierende Wesen, das ist zutiefst menschlich. Manchmal hilft auch eine Pause. Ich glaube, es liegt schon ganz viel Gold darin, zu erkennen, ob ich mehr bei mir bin oder beim anderen.
Hast du gelernt, zuzuhören?
Ich habe in der Mediationsausbildung Kommunikations- sowie Zuhörtechniken gelernt und auch, auf verschiedene Ebenen und körpersprachliche Signale zu achten. Später kam noch Visualisierung als Technik hinzu, also auch da zu wissen, wohin ich schreibe oder ob meine Handschrift auch leserlich ist oder wie ich z.B. eine Figur mit Emotion zeichne. Das ist wirklich Handwerkzeug. Ich verschwende dadurch möglichst wenig Energie darauf, wie ich zeichne, sondern versuche, ganz beim Inhalt zu sein.
Ich habe ein Bildvokabular, aber lerne immer noch viel dazu. Letztens hatte ich den Luxus, dass Martin Haussmann mir zugehört und dabei visualisiert hat. Ich sprach von der berühmten Kuh auf dem Eis. Martin hat dann schnell eine Kuh gezeichnet und eine Fläche, die wie Eis aussieht und dann ging die Kuh eben einfach vom Eis. Das hätte ich technisch nicht gekonnt. Ich hätte mich in dem Moment wahrscheinlich eine Sprechblase mit „Muh“ oder „Ich will vom Eis“ geschrieben, hätte also mit Text und Ausdruck gearbeitet oder etwas gekrakelt, was schwarze Flecken hat und dann hätten wir kurz zusammen gelacht, dass die Kuh so lustig aussieht und es wäre auch ok gewesen.
Das ist auch noch so ein technischer Tipp, sich nicht verrückt zu machen, dass die Zeichnung unbedingt gut sein muss. Irgendetwas fällt uns immer ein.
Du hast gerade verschiedenen Ebenen angesprochen, auf denen du zuhörst. Welche sind das?
Zuerst einmal achte ich auf das, was wörtlich gesprochen wird. Welche Sprachbilder sind schon da, was hat der Mensch gerade gesagt? Ich habe erst lernen müssen, dass ich das Gesagte auch 1:1 wiedergeben kann. Ich bin ja von Haus aus Juristin und in der Beratung groß geworden. Da wird anders zugehört. Das, was ich damals hörte, habe ich direkt in einen Kontext übersetzt. Insofern hatte ich eine Weile echt verlernt, mir den genauen Wortlaut zu merken. „Können Sie das gerade noch einmal wiederholen?“ ist eine vollkommen legitime Frage, dann hört sich auch der Redner nochmals zu.
Auf einer anderen Ebene achte ich darauf, wie der andere spricht. Hier geht es um Sprachklang und Sprachfarbe. Ich kann etwas donnernd oder leise sagen, langsam oder wie aus der Pistole geschossen. Wenn du mir eine Frage stellst, die ich noch nie gehört habe, dann musst du da auch mehr Raum geben und nicht direkt die nächste Frage nachschießen, um eine Antwort zu finden. Es ist gerade spannend, wenn der Sprecher länger nachdenkt, denn dann kommt ja anscheinend etwas Neues, was noch nicht vorbereitet ist.
Eine dritte Ebene wäre für mich die Körpersprache und damit meine ich nicht die verschränkten Arme. Wenn vorher jemand ganz entspannt sitzt und auf einmal in heller Aufregung ist, dann ist das auch ein Ebene.
Und die letzte Ebene, auf die ich gern höre, sind Wort-Bilder und Metaphern. Da kann ich zum einen als Resonanzkörper gut andocken und zum anderen ist das für den Stift schön. Hier sind immer noch ganz viele Schätze verborgen, die der Sprecher auch vielleicht gerade selber entdeckt.
Wir wissen, dass die Qualität des Zuhörers die Qualität des Sprechers beeinflusst. Ich frage mich gerade, wie es damit aussieht, wenn du bei der Visualisierung mit dem Rücken zum Sprecher stehst. Wie ist das, jemandem zuzuhören und womöglich nicht alle körpersprachlichen Details wahrnehmen zu können? Der Sprecher sieht ja idealerweise, was da entsteht und achtet weniger auf dich als Person, sondern schaut auf das Bild.
Das Blatt wird zum Dialogpartner und auch der Stift bekommt eine andere Aufgabe. Es ist dann der Stift, der zuhört. Er wird durch mich geführt und fragt auch durch mich, aber natürlich geht die Aufmerksamkeit weg von mir als Person und hin zum Bild und zu dem, was auf der Fläche passiert.
Das ist in der Tat sehr mächtig und da hilft es noch einmal, sich die Zeit zu nehmen. Ich versuche, möglichst wenig zwischen dem Bild und dem Sprecher zu sein. Ich finde es wichtiger, dass der Blick auf das Bild unverstellt ist und dann gehe ich lieber raus oder zur Seite oder setze mich.
Hilfreich ist, dass mein Stift ja auch entschleunigt und den Prozess langsam gestaltet. Egal, wie schnell ich schreiben kann, ist es langsamer, als wenn ich spreche. Das Tempo bestimmt derjenige, der mit dem Blatt im Dialog ist. Es muss nicht besonders schnell oder schön sein, sondere unterstützend, damit eine gute Kommunikation stattfindet. Mir hilft es, mich zwischendurch zu setzen, wieder hinzuhören, eine neue Frage zu stellen und dem Sprecher auch zu helfen, mit dem eigenen Bild in Kontakt zu sein, also durchaus auch mal die Klappe zu halten.
Der Sprecher ist also im ständigen Abgleich mit den eigenen Gedanken, weil er diese immer visuell vor sich hat. Das bedeutet, dass du als Zuhörerin mit dem Stift auch das Tempo des Sprechers beeinflusst, was wir sonst so unmittelbar eher selten haben beim Zuhören. Wenn ihr in Resonanz seid, dann wartet der Sprecher auch auf dich?
Ich muss am Anfang eines Gesprächs immer erst einmal eine gewisse Zeit zuhören, bevor ich merke, dass der Stift das Gesagte jetzt auch transportieren kann. Für andere ist es stimmiger, direkt anzufangen und zu visualisieren. Ich brauche aber erst einmal eine gewisse Verbindung zum Sprecher. Als müssten wir uns auch alle erstmal kennen lernen: die Fläche, der Stift, der Sprecher und ich.
Ich mache sichtbar, wie ein Mensch sich selbst zuhört. Dann ist häufig Stille, wenn ich stehe und schreibe, weil derjenige sich auch erstmal die Verständnisquittung auf dem Bild abholen muss. Ich schlage manchmal vor „ich schreibe den Gedanken mal hierhin“ und achte dann darauf, was der Sprecher sagt. Ein „Ne, das muss da unten hin“ ist auch fein. Ich bin ein verlängerter Arm.
Nimmt das den Druck raus, alles perfekt aufs Papier zu bringen im Unterschied zum Graphic Recording?
Stimmt. Ich bin eher eine Dialogbegleiterin. Graphic Recording ist nicht der Schwerpunkt meiner Tätigkeit.
Beim Graphic Recording gibt es vom Setting her einen oder mehrere Vortragende oder eine Podiumsdiskussion. Der Graphic Recorder hört zu und übersetzt das Gehörte in Bilder, eine visuelle Mitschrift. Was habe ich gehört und was ist mein Eindruck, was für die Gruppe und die Konferenz das wesentliche ist? Wo höre ich ein spannendes sprachliches Bild, was auch ein gemeinsames Bild werden könnte?
Du hast als Graphic Recorder nicht die Möglichkeit, dir zwischendurch die Verständnisquittung der einzelnen zu holen. Das ist genauso spannend, weil dann in den Pausen ganz oft die Menschen in Trauben um das Graphic Recording stehen und ihr Gehörtes mit dem Bild abgleichen. Das ist wie ein Fotografieren aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Es entsteht ein Produkt, was gern mit nach Haus oder in die Tagungsunterlage gegeben wird.
Hat sich in deinem Zuhören mit der Zeit etwas verändert?
Auf jeden Fall, allein durch den Switch von der Juristin über die Mediation hin zur visuellen Dialogbegleitung. Es sind Nuancen dazu gekommen. Das eine ist nicht leichter oder schwerer, nicht mehr oder weniger differenziert. Es ist einfach eine andere Ausrichtung.
Ich merke manchmal, wie z.B. aktuell in der Pandemie, dass jeder eine Meinung hat, und zwar viel davon. Wenn du mich vor 20 Jahren in diese Situation gesetzt hättest, dann hätte ich direkt meinen Senf dazu gegeben. Heute höre ich erstmal zu und versuche, verschiedene Versionen, Wahrheiten, Ansichtsweisen und Meinungen in der Schwebe zu halten. Das macht meine Umgebung teilweise verrückt, weil die ja mit mir diskutieren wollen. Das Zurückhaltende ist auch nicht immer gesellschaftsfähig (lacht!). Ich kann Dinge auch mal so stehen lassen und nicht gleich bewerten. Das genieße ich.
Da bin ich für meine Umwelt nicht immer einfach, wenn ich nicht in direkte Reaktion gehe, sondern erst mal zuhöre. Die Kehrseite ist, dass ich in privaten Gesprächen denke, jetzt wäre ich auch mal mit Erzählen dran und dann ist die Unterhaltung zu Ende. „Schade, derjenige hat gar nicht nach mir gefragt.“ Das ist eine kleine Verletzung, weil ich mir gewünscht hätte, ich hätte auch den Raum zum Erzählen und Zugehört-Werden bekommen. Dann kommt es mir so vor, als hätte nur ich was geschenkt und ich ertappe mich dabei, dass mein Zuhören dann vielleicht doch nicht ganz so bedingungslos war?
Was möchtest du noch über das Zuhören sagen, Andrea?
Zuhören mit dem Stift ist etwas sehr intimes, was so gern verwechselt wird mit einer schönen Zeichnung. Das ist mir ein Anliegen, dass das gar nicht der Fall ist. „Visualization is not about pictures, it is about insights“ habe ich in diesem Zusammenhang mal gehört und finde es sehr treffend.
Viele denken, dass das Bild schön sein muss, es ist aber der Prozess, der schön oder innig oder erkenntnisreich ist. Der Weg dahin bringt die Kraft. Der Prozess kann laut, leise, fröhlich, traurig, schön, emotional oder sachlich sein. Er hat keinen Anspruch darauf, immer auf eine bestimmte Art und Weise stattzufinden.
Aber das Zuhören mit dem Stift und den Menschen Raum zu geben und ihr eigenes sichtbar zu machen, das ist besonders. Das ist die Dankbarkeit für den Prozess und nicht für das Bild. Und jedes Ergebnis ist hochindividuell.
Vielen Dank für das Gespräch, liebe Andrea. Mehr zu Andrea und ihrem Angebot gibt es hier.
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