Raumforderung. Hört sich erst mal gar nicht bedrohlich an, dieses Wort. Krebszellen. Das war schon deutlicher und erst dann habe ich verstanden, was mir gerade mitgeteilt wurde.

Das hatte ich gelernt: Gute Nachrichten werden persönlich überbracht („Ich freue mich, Ihnen die Labor-Ergebnisse mitzuteilen. Ihre Lymphknoten sind frei“). Schlechte Nachrichten werden faktenbasiert transportiert[1]. Daran konnte ich mich erinnern. Zu hören „Lassen Sie uns einen Blick auf die MRT-Bilder werfen“, hat mir sehr schnell klar gemacht, wohin die Reise geht.

Ich trat als Alexandra in das Behandlungszimmer, ich verließ es als Patientin. Es gibt nichts, was auf diesen Moment vorbereitet. Als hätte ich in einen leeren Fahrstuhlschacht betreten.

 

Teamwork

Was der eine erzählt und der andere hört, ist häufig nicht das gleiche. Das ist in jedem Gespräch der Fall, doch in einer Arzt-Patienten Beziehung besonders wichtig. In meinen Sätzen schwangen vor allem Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit mit, aber das sagte ich nicht explizit. Von einer Sekunde auf die andere sitzt du in einem Dampfkochtopf und weißt gar nicht, wohin mit dir.

Lerne auf das zu hören, was nicht gesagt wird.

 

Meine Ärztin war verständnisvoll. Hat hinter mir als Patientin auch die Person gesehen. Wir haben uns beide die Möglichkeit gegeben, zwischen Daten und persönlicher Ebene zu unterscheiden.

Unsere Arbeitsbeziehung hieß „radikale Ehrlichkeit“ und genau das hat einen eigenen Platz für alle Emotionen ermöglicht. Letztendlich hat es diese Vereinbarung auch mir leichter gemacht, den Menschen in ihr zu sehen. Die Frau, die nach Feierabend gern in den Garten geht, den Rosenbusch zurückschneidet und ihre Finger in die Erde steckt.

Während Ärzte Experten für die Krankheiten des menschlichen Körpers und deren  Behandlung sind, sind wir die Experten für unsere Körper. Beides zu verzahnen erlaubt Augenhöhe, nimmt das Machtungleichgewicht raus. Es lässt uns passende Wege suchen und einschlagen.

Mit Machtungleichgewicht meine ich, dass der Arzt natürlich ein anderes Wissen über Diagnose, medizinische Forschung und Behandlung hat und das Gesundheitssystem intensiv kennt. Als Patientin betrat ich hingegen eine völlig neue Welt.

Nimm deinen Arzt mit auf deine Reise und bleibe am Steuer, sonst gehst du unter in einem System, das nicht sehr mitfühlend ist.

 

12 Sekunden

In ihrem Buch „What patients say, what doctors hear” schreibt Danielle Ofri, es sei die größte Angst von Patienten, von ihren Ärzten nicht richtig gehört zu werden und infolgedessen eine falsche Medikation und Behandlung erhalten. Sie beschreibt die Hierarchie, die entsteht, sobald der Patient in den Behandlungsraum kommt.

In der Regel hat der Arzt kaum Zeit, der Patient selbst hat hingegen wochenlang auf den Termin gewartet und vielleicht schon lange im Wartezimmer ausgeharrt. Dann schildert der Patient in wenigen Sätzen seine Beschwerden und gleichzeitig soll eine vertrauensvolle Atmosphäre geschaffen werden. Kann das überhaupt funktionieren?

Es muss alles sehr schnell gehen. Es ist wenig überraschend, dass Ärzte ihre Patienten im Durchschnitt übrigens schon nach 12 (!) Sekunden[2] unterbrechen.

Wir brauchen keine Ewigkeit

Unterbrochen werden ist frustrierend. Es zeigt, dass der andere nicht zuhört oder nicht interessiert ist. Ofri teilt ihre eigene Erfahrung: „the fear is if I don’t quickly hone on the top priorities, the patient will ramble on ad infinitum and we’ll never get through the visit.”

Dann wollte sie es aber genau wissen und ließ ihre Patienten ausreden. Der erste Patient brauchte 37 Sekunden, der nächste 32. Der dritte Patient kam mit mehreren Beschwerden und benötigte ganze 2 Minuten. Das deckt sich auch mit den wissenschaftlichen Ergebnissen. Im Schnitt brauchen Patienten 92 Sekunden, um ihre ganze Leidensgeschichte zu erzählen[3]. Nicht mehr. 92 Sekunden, die Vertrauen aufbauen und dem Patienten das Gefühl geben, gehört zu werden, was für viele schon eine ungewöhnliche Erfahrung ist.

Liebe Ärzte, bitte gebt uns diese Zeit und lasst für einen Moment auch die Finger von der Tastatur. Seid ganz da. Der Heilungsprozess fängt mit Zuhören an.

 

Paraphrasieren like you’ve never done it before

Zurück zu meiner Geschichte. Medizinische Fachbegriffe richtig zu verstehen ist essenziell. Es ist Übersetzungsarbeit, eine neue Sprache lernen, auf die man nur leider keine Lust hat. Paraphrasieren hatte für mich eine Schlüsselrolle: Ich fasste noch einmal mit meinen Worten zusammen, was ich gehört hatte. Schritt für Schritt, immer wieder, bis ich es wirklich durchdrungen und auch den Kontext verstanden habe. Paraphrasieren hat nicht nur mir geholfen, sondern auch meiner Ärztin, um mich besser kennenzulernen und zu verstehen, wo ich mich gerade befinde im Prozess.

Kommunikation ist keine Einbahnstraße und trotzdem haben Ärzte oft die Erwartung, dass sich Patienten präzise ausdrücken, damit sie die bestmögliche Diagnose stellen können. So funktioniert das nur leider nicht. Es geht um Co-Kreation von Bedeutung (meaning making). Und wie der Name schon verrät, gehören da mindestens zwei Personen zu.

Fragen

Ganz wichtig daher: Fragen stellen, um zu besser verstehen. Das gilt sowohl für Patienten als auch für Ärzte. Wenn wir keine Fragen stellen, fangen wir schnell an mit Annahmen und Vermutungen zu arbeiten. Beide sind in der Regel falsch, also lieber so lange fragen, bis alles klar ist. Die Frage: „Welche Frage sollte ich noch stellen, an die ich nicht gedacht habe?“ hat sich bewährt.

Mein ILA[4] Kollege Dr. Krishna Naineni ist Allgemeinmediziner und Mitglied des Royal College of General Practitioners sowie an der Fakultät der Brighton and Sussex Medical School. Krishna ist Gründer der Glocal Academy[5], die Kurse zur Kommunikationsfähigkeit für junge Ärzte und Fachkräfte im Gesundheitswesen anbietet. Er sagt, dass der Umgang mit Emotionen entscheidend ist und bietet seinen Patienten immer an, Kontakt mit ihm aufzunehmen, falls doch noch etwas unklar geblieben ist.

Hilfreich ist auch der Tipp, den Corine Jansen[6] mir gab: „Was möchtest du aus dem Gespräch mit dem Arzt mitnehmen?“ Sie hat langjährige Erfahrung als „Chief Listening Officer“ im niederländischem Gesundheitssystem und unzählige Patienten, Ärzte und Pflegende unterstützt, indem sie einfach zugehört hat.

Ratschläge und Hilflosigkeit

Bestimmt kennt auch ihr Betroffene oder werdet sie treffen. Vielleicht seid ihr unsicher, was ihr sagen sollt? Easy: Dasein. Zuhören. Fragen, was gerade gebraucht wird.

Ich erinnere mich an ein Telefonat mit meinem Bruder „Du bist meine Schwester, deshalb rufe ich an, sonst würde ich mich wahrscheinlich zurückziehen. Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich sagen oder fragen soll.“

Das wusste ich in dem Augenblick auch nicht und das sah auch immer anders aus. „Erzähl mir von deinem Tag“, war häufig ein guter Gesprächseinstieg.

„Sag bloß deinen Kunden nichts davon“ war der eine Ratschlag, der mich wirklich umgehauen hat. Natürlich ist Krebs nicht das erste, das ich in den Raum bringe. Aber wenn wir über Verletzlichkeit oder Resilienz sprechen, wie kann ich dann diesen Teil abkapseln? Steht dahinter die Angst, nicht mehr beauftragt zu werden? In meinem Job geht es um Menschen. Ich fülle keine Regale auf.

Zum Mitschreiben: Wir fangen immer mit den Menschen an. Jeder im Raum kennt Betroffene. Jeder. Schluss mit Stigmatisierungen.

 

Brustkrebs ist Teil meiner Vita. Es gibt ein Davor und ein Danach, wie bei vielen anderen Dingen auch: Geburt der Kinder, Scheidung, Verlust von Eltern, usw. Wir alle besuchen die „University of Life“. Was wir aus diesen Ereignissen machen und wie sie uns prägen, ist individuell. Es ist nichts, was wir lochen und abheften. Die Kunst ist es, einen guten Umgang mit unseren Narben zu finden. Erinnert mich ein bisschen an meine peinliche Plattensammlung aus den 1980ern: Wer außer mir sollte solidarisch damit sein?

Ach ja, noch eine Bitte: Was nicht hilft, sind ungefragte Tipps, auch wenn sie noch so nett gemeint und Zeichen von Mitgefühl oder Hilflosigkeit sind. Selbst wenn der Nachbar Wasseradern aufspüren kann, werde ich mir keine Heilsteine auf die Fritzbox legen.

Das mit den Heilsteinen gilt übrigens nicht nur für Brustkrebs.

 

Ebenen des Zuhörens

Da sind sie wieder, meine drei Freunde: Das Selbst – die Menschen um dich herum und das große Ganze. Nennen wir sie der Einfachheit halber the Loop, the Group, the Soup.

The Loop

Was gibt mir gerade Energie? Wie kann ich in diesem Prozess aktiv bleiben und mich nicht verlieren: Bleibe neugierig und offen. Die OP mag den Krebs entfernt haben, aber im Inneren hat sich alles verändert. Heilung braucht Zeit.

Corine Jansen fragt gern: Wer bist du in deiner Geschichte? Und wo bist du gerade in deiner Geschichte? Ich möchte die Fragen um eine dritte ergänzen: Was möchte dein Körper dir mitteilen und hat vielleicht kein Gehör gefunden – finde die Ironie an der Stelle.

The Group

Du leidest nie allein. Dein ganzes Umfeld leidet mit dir und alle stehen unter Druck.

Zwar bist du dein wichtigstes Werkzeug, aber du brauchst andere Menschen, die dich unterstützen.

Die radikale Ehrlichkeit habe ich auch hier gelebt und in der Familie alle Informationen rund um die Krankheit transparent geteilt. Meine Wortwahl habe ich natürlich angepasst, je nachdem, mit wem ich darüber gesprochen habe.

Wir haben uns viel Platz für alle Gefühle gegeben, zusammen gelacht und geweint. Unsicherheiten und Ängste benannt, die manchmal einfach unseren Alltag übernommen haben.

Wir wurden gleichzeitig mit den besten und den schlimmsten Gefühlen und Gedanken konfrontiert. Das braucht Platz.

The Soup

Es ist ein Klischee, dass sich in Krisen zeigt, wer an deiner Seite steht.

Das Schöne an Klischees ist: es ist auch ein Tropfen Wahrheit drin.

Der Tag nach der OP war ein runder Geburtstag. Wegen Covid ohne Besuch. Dafür viele Anrufe. Ganz ehrlich: Wer es in 20 Minuten nicht schafft, zu fragen, wie es mir geht, sondern nur von sich erzählt, naja… . Ich darf auch Freundschaften wohlwollend loslassen und toxischen Beziehungen den Rücken kehren.

Auf der Habenseite stehen viele besondere und tiefe Zuhörmomente, überraschende und herbeigeführte, eben weil es auf einmal ans Eingemachte ging.

 

Was nehme ich mit?

Die Fragen „Was tut mir gut?“ und „Wie kann es leicht gehen?“. Ich bin genauer im Hinterfragen geworden, nicht nur, wenn es um meinen Körper geht und konsequenter im Handling mit Energieräubern.

Zuhören ist universal. Ich durfte die Rollen tauschen und dabei unterschiedliche Qualitäten erleben. Ich habe gelernt, bessere Worte zu finden als eine einfache Zahl für die 1-10-Schmerzskala.

Unser Gesundheitssystem ist krank, das Thema würde aber jeden Blog sprengen und last but not least: auch Ärzte brauchen Kommunikationstrainings, Perspektivwechsel und Mitgefühl für sich selbst.

 

Bild: Shutterstock

[1] Als dritte Variante neben diesen beiden Ansätzen gibt es noch „avoidance“ i.S.v. nicht kommunizieren: Nachrichten werden nicht ausgesprochen, sondern man wartet, bis der Patient es selbst thematisiert.

[2] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11456245/

[3] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12351359/

[4] International Listening Association https://listen.org

[5] https://glocalacademy.org

[6] https://corinejansen.com