Zuhören trendet. Und wie bei vielen anderen Trends auch, gibt es unerschütterliche Mythen und Halbwahrheiten, die immer wieder verbreitet werden oder mir in meiner Arbeit begegnen. Ein paar davon schaue ich mir hier an.

 

Aktives Zuhören

Zuhören ist Hören mit Intention.

Glaubst du nicht? Na, dann achte bitte auf drei Geräusche, die du jetzt gerade wahrnehmen kannst. Das ist dir wahrscheinlich leichtgefallen. Du hast aber nicht auf diese drei Geräusche geachtet, bevor ich dich darum gebeten habe. Zuhören bedeutet, dem Gehörten Raum und Bedeutung zu geben.

Zuhören ist also eine Entscheidung. Mit der richtigen inneren Haltung brauchen wir kein Adjektiv davor. Kein tief, aufmerksam oder aktiv.

Carl Rogers, der in den 1950er Jahren die personenzentrierte Gesprächsführung entwickelte, prägte den Begriff des aktiven Zuhörens. Demnach ist aktives Zuhören nicht wertend, einfühlsam und kreativ.  Achtung: Es ist ein Begriff aus der Gesprächstherapie. Er wurde jedoch von einigen Beratungsunternehmen übernommen, um eine Reihe von Praktiken mechanisch zu unterrichten, die die von Rogers angedachte Bedeutung verloren haben. Wer kennt es nicht, das Zustimmungsgrunzen, ein antrainiertes Nicken oder die manipulative Verwendung von Gestik, um eigene Ziele zu erreichen? Willkommen im Land des Fake Listenings.

Tatsächlich warnte Rogers, dass die Technik nicht wirksam sei, wenn sie nicht auf einer angemessenen Einstellung (Haltung!) beruht. Sein Kern bezüglich Zuhörens ist für mich vielmehr hier beschrieben:

If I want to help a man reduce his defensiveness and become more adaptive, I must try to remove the threat of myself as his potential changer. As long as the atmosphere is threatening, there can be no effective communication. So I must create a climate which is neither critical, evaluative, nor moralizing. It must be an atmosphere of equality and freedom, permissiveness and understanding, acceptance and warmth. It is in this climate and this climate only that the individual feels safe enough to incorporate new experiences and new values into his concept of himself.[1]

Avi Kluger[2] hat im letzten Jahr 20 unterschiedliche Adjektive untersucht, die Zuhören beschreiben und versucht, diese zu unterscheiden. Dabei hat er zwei grundlegende Dinge beobachtet: beobachtbare versus nicht beobachtbare Verhaltensweisen und der Fokus auf entweder Sprecher oder Zuhörer.  Er definiert Zuhören als

the degree to which a person devotes themselves to co-explore the Other with and for the other”,

also das Ausmaß, in dem sich eine Person der gemeinsamen Erkundung des Anderen mit und für den anderen widmet. Das kann sowohl vom Sprecher als auch vom Zuhörer ausgehen.

Gelingt es mir, diese Atmosphäre, diesen Raum zwischen uns entstehen zu lassen? Kann ich Aufmerksamkeit schenken? Hier und Jetzt? Mit Neugier, Zugewandtheit und Respekt brauche ich kein Adjektiv.

 

Zuhören ist ein Soft Skill

Nein. Zuhören ist ein Core Skill, sogar ein Life skill! End of Story!

 

Zuhören ist eine Superpower

„Können wir mit dieser „Superpower“-Sache aufhören?“ fragte Jillian Reilly letztes Jahr zurecht[3].

Das meiste von dem, was wir aktuell als Superpower bezeichnen – Zuhören, Storytelling usw. – gehört schlichtweg dazu, ein Mensch zu sein. Es ist fest in unserer DNA verankert. Jahrtausende lang haben wir uns um ein Feuer herum versammelt. Unser Überleben hing davon ab, Geschichten und Erfahrungen zu teilen und zuzuhören. Schon vergessen? Dann ist es höchste Zeit, dass wir uns wieder daran erinnern, was wir schon instinktiv wissen:  wie man sich miteinander verbindet. Leider stehen uns viele Dinge im Weg. Zeit zum Entrümpeln.

Mit Sicherheit geben wir Zuhören nicht den Raum, den es verdient. Also Augen – äh Ohren auf: Wo macht mein Zuhören einen Unterschied? Wer sollte es bemerken, dass ich besser zuhöre? Was kann ich tun, damit ich mehr Gehör finde?

Nichts gegen Superhelden (spot the 2020 irony![4]), aber lasst uns doch alle feiern, die sich Tag für Tag Mühe und ihr Bestes geben, ihre Gesprächspartner wirklich zu verstehen und offen für Reflexion und Reaktionen sind. Jeder kann es lernen, ganz ohne Zaubertrank, Perfektion und extrem dichte Molekularstruktur. Damit sind wir alle Superhelden!

 

Ich bin ein überdurchschnittlicher Zuhörer

Ich auch, ich auch und ich erst.

„Wir beurteilen uns selbst nach unseren Absichten und andere nach ihrem Verhalten“. [5]

In einem meiner ersten Trainings saß ein älteres Ehepaar, das die jeweils eigenen Zuhörkompetenzen über einen Fragebogen selbst einschätzen sollte. An Schulnoten gemessen war sein Ergebnis eine sichere 4 und er sagte etwas irritiert zu seiner Ehefrau „Schau mal, nur eine 4. Ich dachte, ich wäre ein besserer Zuhörer“ Darauf seine Ehefrau: „Du denkst ja auch, du kannst gut Auto fahren!“.

Nicht viele Kompetenzen zeigen eine so deutliche Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Studien belegen das. Lehrpersonen wurden zum Beispiel nach einer videografierten Unterrichtseinheit gefragt, wie hoch sie ihren Redeanteil einschätzten. Fast alle Lehrkräfte haben ihre eigene Sprechzeit unterschätzt und dachten sie läge bei 50%, wobei sie in den meisten Fällen um die 70% lag.

Zum einen schätzen wir unseren eigenen Redeanteil demnach deutlich geringer ein, als er tatsächlich ist. Zum anderen können wir nicht selbst entscheiden, ob wir ein guter Zuhörer sind, das bestimmt unser Publikum.

 

Zuhören ist passiv

Fragen stellen

Gutes Zuhören bedeutet nicht, dass wir keine Fragen stellen dürfen. Ganz im Gegenteil.

Fragen versprechen, tiefere Gespräche zu führen. Fragen sind Werkzeuge, um in die Denkwelt des anderen zu gelangen[6], vorausgesetzt, sie verschieben den Fokus nicht auf mich als Zuhörer:in.

Leider punktet man mit einer Meinung mehr als mit einer Frage. Fragen brauchen Mut: wir wollen mehr erfahren und offenbaren, dass wir etwas noch nicht wissen. Unsere Gesellschaft wird vom Gegenteil geprägt: Führungspersönlichkeiten, Experten, Entscheidungsträger, Menschen, die inspirieren – die wissen offensichtlich alle, was Sache ist. Dabei werden Meinungen als Fakten dargestellt und wer fragt, zweifelt.

Vielleicht sollten wir neben Zuhörkompetenzen auch unsere Fragekompetenzen ausbauen?

Zuhören beeinflusst Sprechen beeinflusst Zuhören

Janet Bavelas bat eine Gruppe Studierender, eine wirklich bedeutsame Geschichte aus ihrem Leben zu erzählen und eine andere Gruppe so zuzuhören, wie sie ihrem besten Freund zuhören würde. Der Hälfte der Zuhörer gab sie allerdings eine weitere Aufgabe, nämlich alle Sonntage bis Weihnachten zu zählen, während sie zuhörten. Das Experiment fand an einem Februartag statt, so gab es einiges zu zählen.

Es überrascht wenig, dass die Feiertagszähler keine guten Zuhörer waren. Sie wiesen viel weniger als die allgemeinen Indikatoren für Aufmerksamkeit auf: „mm-hmm“ oder „ja“ sagen oder nicken. Und sie zeigten kaum spezifische Reaktionen, Gesten oder Ausdrücke, die den eigentlichen Inhalt der Geschichte widerspiegelten.

Im Anschluss wurden die Gespräche transkribiert. Die Sprecher mit den abgelenkten Zuhörern fanden oft keinen roten Faden in ihren Geschichten, stotterten häufiger oder blieben hängen, ähm, ähm, ähm.

Wir kennen diese Feiertagszähler sehr gut, die Leute mit halbglasigem Blick beim Zuhören, ein gelegentliches „hm“ oder „jaja“, keine Resonanz. Wir wissen, dass sie an ihre To-Do-Liste denken oder an das Champions League-Spiel von gestern Abend oder daran, ob noch Lasagne da sein wird, wenn sie in der Cafeteria ankommen, anstatt sich auf das zu konzentrieren, was wir sagen.

Monisha Pasupathi wollte es noch genauer wissen. Ihr Versuch glich vom Aufbau dem von Bavelas, nur hatte die Hälfte der Zuhörer die Aufgabe, alle Wörter mit „th“ zu zählen (in der englischen Sprache gibt es viele davon: the, that, these etc.) und damit genau zuzuhören.

Die „th“-Wort Zähler schienen engagiert zu sein, waren es aber nicht. Sie schienen sich stark auf den Sprecher zu konzentrieren, hörten die Geschichte aber nicht wirklich, so dass ihre Reaktionen und Antworten sowohl im Timing als auch in der Angemessenheit nicht übereinstimmten.

Die Transkriptionen dieser Gespräche ähnelten denen von Bavelas, waren sogar noch ausgeprägter. Als Pasupathi die Sprecher ein paar Tage später wieder einlud, um von ihren Geschichten zu erzählen, erinnerten sich die Sprecher mit den abgelenkten Zuhörern viel weniger an ihre eigenen Geschichten.

Beide Studien und weitere zahlreiche Experimente dazu zeigen, dass die Auswirkungen von schlechtem Zuhören nicht nur vom Zuhörer erlebt wurden. Unser Zuhören ist in der Tat ein Schlüsselelement für die Fähigkeit des Sprechers, eine Geschichte gut zu erzählen. Mit geeigneten Antworten, die spezifisch auf den Inhalt der Geschichte zugeschnitten sind, hilft der Zuhörer, die Geschichte in ihre bestmögliche Form zu bringen.

Zuhören bestimmt mehr als  50% unserer Gespräche. Je besser wir zuhören, desto sicherer werden sich die Redner fühlen und sich auch länger an ihre Inhalte erinnern.

 

Und jetzt?

Zuhören trendet. Es wird als eine der wichtigsten Kommunikationsfähigkeiten genannt, nur eben eine, für die wir im Leben NULL Training bekommen. Wir lernen, zu sprechen. Wir lernen, zu lesen. Wir lernen, zu schreiben.  Aber was ist mit Zuhören? Wer hat uns gutes Zuhören bewusst nahegebracht?

Je länger ich mich mit Zuhören beschäftige, desto weniger verstehe ich, weshalb es nicht auch schon an Schulen und der beruflichen Ausbildung auftaucht.

Die gute Nachricht ist: Wir können unser Zuhören trainieren wie einen Muskel, ein Gespräch nach dem anderen.

Ich zeige gern, wie das gelingen kann!

 

 

Bild: Sharon Waldron über Unsplash

 

[1] Rogers, C. R., & Farson, R. E. (1957). Active listening. Industrial Relations Center, the University of Chicago.

[2] Kluger, A. & Mizrahi, M. (2023) Defining listening: Can we get rid of the adjectives?

[3] Jillian Reilly

[4] What is your superpower?

[5] Stephen Covey

[6] Darf man beim ZUHÖREN Fragen stellen?